Ein Land, wie man es gar nicht erfinden kann

Ach, mein Chile.

Kaum lässt man es mal unbeaufsichtigt… Es hat sich verändert in den vergangenen Jahren. Und irgendwie ist doch alles beim Alten geblieben.

Es ist ein Land im Aufbruch. Man merkt, dass mehr Menschen Zugang zu mehr Geld haben. Auch wenn es nur Kredite sind. Die Leute fahren schicke neue Autos, kaufen schicke kleine Fertighäuser in schicken Wohngebieten, in denen alle Häuser gleich aussehen. In jedem Zimmer ein fetter Fernseher. Die Leute steigen in die schicken neuen Billigflieger und fliegen nach Mar del Plata, Rio de Janeiro und Havanna. Das alte Paradigma, nach dem arm ist und bleibt, wer eine dunkle Hautfarbe hat, und reich ist und bleibt, wer weiß ist, bricht auf. Im Schneckentempo. Immerhin sieht man gelegentlich schon dunkelhäutige Menschen im Fernsehen. Und nicht als Verbrecher… Aber immer noch ist einer der reichsten Männer des Landes, der ganz zufällig auch noch Präsident ist, ganz schön weiß. Und all seine Buddys sind es auch.

Chile bleibt ein Land der Gegensätze. Nicht nur was die Natur angeht mit der Wüste im Norden, dem Eis im Süden, der Hitze am Tag und der Kälte in der Nacht. Auch der Alltag zeigt sich gern extrem: Der schicke neue Riesen-Mähdrescher rauscht am Ochsengespann vorbei. Die Leute gehen in die „Mall“, die schnell und billig zusammengezimmerte Glitzerwelt mit demselben schicken neuen Kram, den wir hier auch kaufen, und gehen dann zurück in ihr feuchtes Heim aus Wellblech und Holz (soon to be Fertighaus).

Ja, in Chile braucht es den neuesten Scheiß, YouTube diktiert Geschmack und Bedarf. Und doch findet auch Altes Platz, Verwendung und Respekt.
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In Chile hängt der Weihnachtsschmuck an der Verkaufsbude mit der Mapuche-Fahne… img_2990

Chile ist berühmt berüchtigt für seine völlig irre Bürokratie (wirklich irre, aber der Endgegner bleibt Deutschland), dennoch herrscht ein gewisses Laissez-faire. Und eine gewisse Egalheit, die ihr seitens der Chilenen entgegenschlägt. Das Auto ist dreimal bei der technischen Überprüfung, die alles durchwinkt, was nicht beim Anlassen direkt explodiert, durchgefallen? Egal, gehen wir woanders hin und bezahlen einfach mehr Geld!

Ach, die Chilenen, die alles so wunderbar dramatisieren können…img_2841
… und in der nächsten Sekunde wieder eine unfassbare Egalheit an den Tag legen. Was kostet die Welt? Kann ich mir nicht leisten, aber ach, egal, gib mir zwei! Das führt zur unvergleichlichen chilenischen Präzision:
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Passt, weil keiner Angst vorm Bums hat…

Die Chilenen, die so gastfreundlich sind und fröhlich und laut und sich über diese Kolumbianer und Venezolaner beschweren, die zahlreich ins Land kommen und… fröhlich und laut sind. Die Chilenen, die berühmt berüchtigt für ihre doppeldeutigen Sprüche, aber total pikiert sind, wenn man direkt übers Ficken redet.

Doch: So ganz langsam wandelt sich die verklemmte Gesellschaft. Man merkt, dass die jungen Leute keine Lust mehr haben auf all diese Zwänge. Züchtig sein, heiraten, jegliche Sexualität hinter verschlossenen Türen stattfinden lassen. Als ich das erste Mal in Chile war, durfte ich auf gar keinen Fall MÄNNER in meine Wohnung mitnehmen, das wurde von der Hauswirtin genauestens überwacht! Als ich mir schließlich eine andere Wohnung nahm, ohne Männerschranke, hatte ich direkt einen Schlampenstempel. In der Öffentlichkeit knutschen war nicht. Trotzdem haben alle im Wald gevögelt, denn das Motel kann sich nicht jeder leisten. Weil aber die armen Studenten alle noch zu Hause wohnen mussten (ein chilenisches Studium ist ein teurer Spaß), war zu Hause ficken auch nicht drin. „Nicht unter meinem Dach“, der Standardspruch der chilenischen Muddi. Dass das trotzdem stattfindet, dürfte klar sein. Hauptsache, der Schein ist gewahrt… Muss man erwähnen, dass viele Chilenen miserabel aufgeklärt sind? Nicht mal Tampons hat man vernünftig gekriegt! Die gute katholische Jungfrau kann ja nicht von so einem Ding penetriert werden!
Mittlerweile wird geknutscht. Man sieht gelegentlich homosexuelle Paare. Auch wenn das ununterbrochen kommentiert wird -.- In manch gut sortiertem Supermarkt findet man Kondome. Und jaha, Tampons. (Wenn auch mitunter von zweifelhafter Qualität.) Und ja, Sex liegt in der Luft. Es scheint nicht mehr alles so heilig…

Ach Chile, ein Schlaraffenland, in dem der Hunger noch kein Fremder ist…

 

Das Land, in dem alle irgendwie das Meer lieben, weil es einfach so schön ist – und doch so tödlich.

In Chile gibt es drei Worte für „die Erde bebt“. Ein „sismo“ ist kaum wahrzunehmen. Hat es gewackelt, oder war das mein Herzschlag? Vielleicht hat sogar der Hund gebellt und am Ende sagt der Mann im Radio: Hat gewackelt. Ein „temblor“ kriegt man schon eher mit – wenn man es nicht verschläft. Bei einem temblor bellt der Hund bestimmt und die Möwen kreischen in der Nacht. Das Bett quietscht und die Gläser klirren. Ein temblor ist alles bis etwa zur Bebenstärke 7, nichts, was den Durchschnittschilenen aus der Ruhe bringt. Erst, wenn alles umfällt, spricht der Chilene von einem „terremoto“, einem Erdbeben und das bringt gerne mal nen Tsunami mit. Dann ist Schluss mit Egalheit.
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Ich kenne Chile aus einer Zeit, in der alles umgefallen war und vieles überschwemmt. Monatelang hat es täglich gewackelt, manchmal mehrmals täglich. Anfangs habe ich nachts noch im Bett gestanden, irgendwann habe ich alle möglichen temblores verpennt. In Prüfungen habe ich den Schreiber weggelegt, weil keiner das Gekrakel hätte lesen können. Mitunter habe ich den Kaffee weggestellt, damit mir das heiße Zeug nicht auf die Beine schwappte. Manchmal saß ich gerade auf einer Wiese oder am Strand – und fand es irgenwie… schön. Mutter Erde lebt und so. Klingt irgendwie eso-spinnert… Fast hat es mir dieser Tage gefehlt – die beiden einzig nennenswerten temblores habe ich verschlafen. (Ich hab leicht reden, ich habe durch das Beben nichts und niemanden verloren – nur den Zugang zu fließend warmen Wasser…)

In Chile weiß man nie, was einen erwartet. Und doch wird man nie überrascht. Denn auch das verrückteste, ungwöhnlichste oder schockierendste Ereignis lässt sich mit einem Wort erklären: Chile.

Was mich am ehesten überrascht in Chile, bin ich selbst. Chile verändert mich. Ich steige aus dem Flieger und bin eine andere Person. Ich bin entspannter. Ich bin fröhlicher. Ich bin geselliger. Ich bin wagemutiger. Ich bin… egaler. Was kostet die Welt? Egal, Hauptsache, es ist ein Chile drauf.

Ja, das Land verändert sich. Ich sehe es mit einem lachenden und weinenden Auge. Ich mag mein Chile, so wie es war. Auch wenn mich Manches auf die Palme getrieben hat. Aber es kann ja nicht zu meiner persönlichen Unterhaltung ein Museum bleiben. Kaum ein Chilene befindet sich in der Position, in der ich privilegierte Weiße mich befinde: Einfach jederzeit in ein Erste-Welt-Land verschwinden zu können, in dem auf ganz hohem Niveau gejammert wird.

Ich freue mich, dass es immer mehr Menschen in Chile immer besser geht, so manche Veränderung war bitter nötig. Nicht alle Entwicklungen finde ich toll. Vieles wird für immer verloren gehen. Aber ach, ich mag mein Chile, so wie es ist. Und ich werde es weiter im Auge behalten.

*Abgang mit viel Geheule*

15 Kommentare zu “Ein Land, wie man es gar nicht erfinden kann

  1. Valparaiso haben wir mit einem deutschen ExPat als Fremdenführer durchstreift. Als Altlinker und Journalist hat er uns auch viele dieser chilenischen Schattenseiten (Arme/Mittelschichten/10 Familien) erklärt und gezeigt. Sehr informativ wie deine Beschreibung (ich könnte trotzdem direkt wieder zurück).

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  2. Das klingt einfach grossartig. Chile ist in der Tat ein blinder Fleck in meinem Weltwissen.
    Was ist die Veränderung, die Du am meisten ablehnst?
    Was ist die Entwicklung, die Du am meisten begrüßt?

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    • Hm.
      Also, erst einmal finde ich es natürlich begrüßenswert, dass die Armut im Land abnimmt. Damit geht auch die Kriminalität zurück und insgesamt steigt die Lebensqualität. Mehr Leute haben Zugang zu besserer Bildung, da haben auch alle was von. Ich freue mich, dass Homosexuelle händchenhaltend auf der Straße rumlaufen können, ohne totgekloppt zu werden (da gab es leider vor ein paar Jahren tatsächlich einen Fall). Wenn jetzt noch die dummen Sprüche und Anfeindungen aufhörten… Ich finde es gut, dass der Einfluss der Kirche in Politik und Gesellschaft abnimmt.
      Ich finde es – wie neulich beschrieben – schade, dass der Tourismus langsam in die abgelegensten Ecken vordringt. Und dass der globale Konsumterror die Geschmäcker vereinheitlicht, dass die Leute die gleichen Sachen kaufen, essen und herstellen, wie alle überall. Das ist ein enormer Kulturverlust.

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  3. Welche Position hast Du eigentlich im Pisco Streit?
    Ist es nun das chilenische Nationalgetränk oder das peruanische?
    Eine Freundin von mir (Halb-Peruanerin) sieht das natürlich vollkommen klar, es ist das peruanische.
    Und wie hältst Du es mit Ceviche?

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  4. Pingback: Fazit und so | Begrabt mich mit dem Gesicht nach unten

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