Halb 70

Gestern habe ich meine alte Wohnung übergeben und als ich aus dem Dorf fuhr, dachte ich: „Soifz, schön hier. Das wird mir schon fehlen.“ Und dann dachte ich: „So ein Quatsch. Du wohnst seit mehr als drei Wochen in der neuen Wohnung und hast nicht einmal an die alte Gegend gedacht!“

Ich hatte auch nicht so richtig Zeit dafür, nach Frankreich, Wien, Umzug und dann auch noch viereinhalb Tage Berlin wegen des neuen Jobs, neuer Job, zwei Wochen Frühdienst, Routine zurechtruckeln, die Bude wohnlich machen, die Katze auswildern, ein bisschen Sex wiederentdecken, natürlich wieder eine Blasenentzündung kriegen, beim Arzt hocken, alte Wohnung schrubben, übergeben, allerletzten Kram rumfahren… (Beep. Definiere Burnout.)

Möglicherweise gehöre ich in diesem Jahr zu diesen Menschen, für die Weihnachten ganz plötzlich und überraschend kommt. Hatte jedenfalls noch keine Zeit, daran einen Gedanken zu verschwenden. Mir ist auch heute so ungefähr um Mitternacht eingefallen, dass ich Geburtstag habe.

Kann dazu auch dieses Jahr gar nicht so richtig was sagen. Weder so ein niedergeschlagenes Blöp wie letztes Jahr noch sonst irgendwas. I’m dead inside. Ich fühle gar nix. Zu ausgebrannt für sowas.

Prost.

Shift

Ich habe die letzten ernstzunehmenden Arbeitstage im ausklingenden Job hinter mich gebracht (da wartet noch ein Wochenenddienst Ende Oktober auf mich, aber pffft) und mich zurück in die Bretagne fahren lassen. Job, Umzug, Zeug, Leben, Reisen, es ist wieder alles auf einmal und zu viel. Mein Hirn klinkt sich in Blasen aus und betrachtet mich und mein Tun mit Staunen. Es ist reichlich unproduktiv und beschäftigt sich allein mit träger Reflexion.

Wir rauschen an der Autobahnabfahrt nach Brüssel vorbei und ich erinnere mich, dass es einmal eine gar nicht geringe Wahrscheinlichkeit gab, dass ich dort leben und arbeiten würde. Und ich erinnere mich, dass ich da sogar ziemlich geil drauf war. Es kommt mir heute komplett absurd vor. Was hätte ich gemacht in der großen Stadt?

Natürlich erinnere ich mich an den Typen, der meine Ansprüche an Männer für immer viel zu hoch geschraubt hat. Es gibt sogar ein sekundenlanges Wiedersehen aus der Ferne. Freundliches Winken, Abgang. Mein Hirn hängt ihm schon wieder ein bisschen nach, lächerlich wie es ist. Und findet dann allgemein allerhand Bretonen attraktiv. Und überhaupt, die Idee von: Einfach hierbleiben. Und von all den Jungs naschen…

In den vergangenen Wochen haben sich ein paar Dinge getan, die eine Tür einen Spaltbreit aufgestoßen haben. Noch kann sie wieder zufallen und das liegt nicht nur in meiner Hand. Wenn ich Glück habe, krieg ich einen Fuß hinein. Und dann könnte… Vielleicht…

Wir werden sehen.

Von Gefallen

Da fragt man mich ob ich gerne in die Zukunft sehen können würde. Und ich denk nur so: Neinneinnein. Nein nein. Hilfe, nein!

Stell ma vor, was ich sehe, ist noch schlimmer als das was ist.

Wenn mein 14 Jahre altes Ich, dass jeden Abend gehofft hat, dass es am nächsten Morgen nicht wieder aufwachen muss, gesehen hätte, dass es in 20 Jahren anders, aber kein bisschen besser ist, hätte es vielleicht doch nachgeholfen mit dem Nicht-Aufwachen. Und ich frage mich, ob ich mir nicht nen gefallen getan hätte.

Und dann stellt sich die Frage, ob das 54 Jahre alte Ich dasselbe über mein 34 Jahre alte Ich denken wird.

Wenn ich den See seh

Da begab es sich nun, dass ich zu einem Besuch in die Provinz zurückkehrte. Schon lange vor der Ankunft konnte ich den See sehn. Und den Mohn blühen. Und alles grünen. Es ist einfach die schönste Jahreszeit.

Und tagelang wurde ich umhergefahren und konnte einfach Beifahrer sein. Den See sehn. Und den Mohn. Und die Felder auf den sanften Hügeln. Kilometerweit keine Spuren von Besiedlung. Einfach Provinz. Wie ich sie liebe.

Und ich musste gar nicht so tief in mich gehen, um die dummen Chefs (allen voran das unfassbar dumme fette Arschloch), die mir das so kaputt gemacht haben, dass ich gegangen bin, sehr zu hassen. Noch mehr als vorher schon. Einfach der blanke Hass!

Vor allem jetzt, wenn ich bei 33 Grad keinen See mehr seh.

Groarrrrrr.

Seite 49ff

Da erreicht mich so Leserpost (YEAY, Leserpost! 📭). Das ist etwas, was ich an dem Blog mag: Ihr Menschen, mit mehr, anderen oder einfach Erfahrungen sagt manchmal was, dann denk ich drüber nach und dann ergibt es Erkenntnisgewinn. Dieser Leser schreibt also (Fehler sind seine eigenen):

z.B. „das Jahr 2016“, das erwähnst du immer wieder, wie schlecht es war, und dann läuft das bei mir wie in einem Stephen King Buch, wenn er auf Seite 49 sagt, „aber zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass der Schatten auch in ihr Haus gelangen würde“, da wird der Spannungsbogen hochgehalten, wie dieses Jahr wohl wirklich war. Irgendwann werde ich es lesen.

Ich musste dann hart über das Jahr 2016 nachdenken. Ich konnte nicht mal nachvollziehen, in welcher Stadt ich 2016 gelebt habe. Ich musste mit Hilfe der Finger nachrechnen: Wenn ich diesen Job seit nem knappen Jahr habe, den davor drei… 2016 im Sinn… Ohne in meinem eigenen Blog zu spicken, kann ich mich auch an nur ein Ereignis erinnern: Den Tod des großen Ungetüms. Alles andere ist Watte in meinem Kopf. Woran ich mich sehr lebhaft erinnere: Das Gefühl, nachts aufzuwachen und schon zu heulen, bevor ich überhaupt begriffen habe, dass ich wach bin. Weil heulen der natürliche Zustand war. Totale physische und psychische Erschöpfung.

Was war so besonders schlimm an 2016? Ich glaube, ich habe das hier im Blog schon mal irgendwann irgendwo geschrieben, ich finds nur grad nicht: Manchmal passieren Dinge, die einem vorkommen wie das Ende der Welt. Man kann sich nicht vorstellen, wie die Dinge weitergehen sollen. Wie das Leben funktionieren soll, angesichts dieses Ereignisses. Aber die Welt dreht sich weiter, die Zeit vergeht und irgendwie gelangt man auf die andere Seite, die Dinge gehen weiter, das Leben funktioniert, der Schmerz wird kleiner. Eine Lektion, die ich in meiner Jugend gelernt habe, als ich jeden Abend weinend eingeschlafen bin und mein einziger Wunsch war, dass ich morgens nicht wieder aufwache. Fünf Jahre lang. 2016 hatte ich das Gefühl, dass ich nie auf die andere Seite komme. Dass es nicht vorbei geht. Dass DAS jetzt mein Leben ist. Und deshalb fühlt sich 2016 – obwohl ich kaum eine aktive Erinnerung daran habe – schlimmer an als alles, was danach kam. Obwohl mehr, vielleicht sogar schlimmeres Schlimmes passiert ist.

Ich schrieb dem Leser: „Und deshalb kann es sein, dass 2021 trotz allem nicht schlimmer war als 2016. Weil ich weiß: Es wird wieder anders. Keine Ahnung wie. Keine Ahnung, ob besser. Aber anders.“

Aber bei Licht besehen bin ich nicht mehr so sicher. Auch 2021 in weitgehend in meiner Hirnwatte verschwunden. Ich habe alles getan, was ich tun konnte, um mein Leben in die richtige Richtung zu schubsen. Jeder ist seines Glückes Schmied am Arsch. Das Leben ist immer im Weg. Mir ist dieses 2016-Gefühl so nahe wie nie. Ich weiß gar nicht so genau, woher diese physische Erschöpfung kommt, ich mach ja nix außer Denkarbeit, aber sie knutscht wild mit der psychischen Erschöpfung und da ist es wieder: Das 2016-Girl, das im Schlaf heult. Und ich denke: Vielleicht ist DAS mein Leben. Vielleicht war da nur ein kurzes Intermezzo zwischendurch, kurz Luft holen, aber DAS ist mein Leben. Und es gibt keine andere Seite. Darauf erstmal eine Runde erschöpften Schlaf.

Es ist ja gut, dass man der Fahrer im eigenen Leben ist. Dass man bestimmt, wo es hingeht (hoffentlich ans Meer), in welchem Tempo und überhaupt. Aber ich bräuchte mal ne Pause. Ich möchte gerne einfach mal Beifahrer sein auf dem Weg ans Meer (metaphorisch und in echt). Pause machen. Augen entspannen. Freies Dissoziieren. Das fehlt mir. Früher habe ich mich dem oft hingegeben, gerade beim Mitfahren im Auto. Ich habe den Körper dagelassen und war weg. Ganz weit weg. Ein schwer zu erreichender Zustand, wenn man selbst am Steuer sitzen muss. Es bleibt einem nicht viel übrig, als dem kalten Leben in die Augen zu sehen, während es einen mit Scheiße bewirft.